ist die Wahrheit schwarz/weiß? Deutungshoheit, Recht und Gerechtigkeit


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Geschrieben von heinz am 25. September 2020 16:32:43:

Als Antwort auf: Wahrheit:Für größere Ziele koennen wir darauf verzichten. geschrieben von Wehner am 25. September 2020 14:12:22:

Hallo Wehner, Karl, und alle

bin mir jetzt nicht so sicher, in welche Richtung deine Antwort abzielt? Du machst damit das ganze große Fass auf.
Natürlich geht es immer um Wahrheit. Nur: von einer vermeintlichen Unwahrheit lasse ich mich nicht abbringen, mich mit einem Thema zu beschäftigen, das ja gerade schon stark mit der Diskussion über die "Deutungshoheit über die Fakten" belastet ist.
Ohne den Begriff "Wahrheit" vorab einzugrenzen und mich mit dir auf eine Definition zu einigen können wir uns vielleicht schon darauf verständigen: Die Wahrheit entzieht sich in dem Kontext einer Zeugenaussagen am Ende oft einer schwarz/weiß Beurteilung. Das hängt zu aller erst an der Art und Qualität der Frage an den Zeugen.
"Leider" habe ich immer wieder das zweifelhafte Vergnügen im Zeugenstand vor Gericht zu stehen (um als Sachverständiger hauptsächlich technische Fragen zu beantworten). Die Vorsitzenden neigen dazu, Fragen zu formulieren, die ganz schlicht von völlig falschen Voraussetzungen ausgehen. Ich habe es erlebt, dass sich der Richter hier einfach was zusammenreimt, von dem er von Grunde auf keine Ahnung hat. Dazu möchte er dann von mir quasi nur noch eine Bestätigung schwarz/weiß.
Das läuft dann so: "Machen wir es kurz, Sie wissen ja, der Prozess zieht sich jetzt schon 3 Jahre und die Gerichte sind völlig überlastet. Wir brauchen Sie nur zur Klärung von ein paar Detailfragen.
Dann wird die Frage eingeleitet mit einer bunten Mischung aus Fachbegriffen die lose in dem Kontext des eigentlichen Streitgegenstandes stehen und münden in eine vermeintlich einfache Frage.

Wenn man dem Vorsitzenden nun entgegnet, dass sich die Frage so nicht stellt, weil... dann ist er beleidigt. Wenn man weiter ausholt hört er nicht zu und fragt dann am Ende, also bitte: schwarz oder weiß. Die Prozessbeteiligten hoffen natürlich jeder für sich, dass die Ausführungen des Zeugen den Vorsitzenden in die Richtung bringen, die für sie jeweils günstig ist.
Es ist ein sehr undankbarer Job. Je nach dem, von welcher Seite man als Zeuge benannt wurde, erzählt man dann Wahrheiten (nicht ironisch gemeint) die dem Richter als passende Antwort erscheinen könnten. Meistens kennt man aber die Schriftsätze vorher nicht und an der Verhandlung darf man auch nicht teilnehmen.
Dass einem das Wort im Mund noch umgedreht wird ist dann die Spezialität der anwesenden Rechtsanwälte.
Noch eine Episode, wo es mal anders lief:
Vor einem Finanzgericht durfte ich zu Kraftstoffqualitäten und der Einordung eines bestimmten speziellen Kraftstoffes zu einer Zolltarifnummer aussagen.
Neben dem Vorsitzenden saßen zwei Laienrichter (das ist so üblich). Eine davon war im Brotberuf Chemielaborantin, der andere hat geschlafen. Der Vorsitzende war schlecht vorbereitet, also hatte die gute Frau die Bühne frei und ihrerseits mal erzählt, was sie so alles weiß über Kohlenwasserstoffe. War nett. Sie hatte aber das grundlegende Problem nicht erfasst, da sie offensichtlich mit den Modalitäten einer "verbindlichen Zolltarifauskunft" noch nie was zu tun hatte. Es entsponn sich eine fröhliche Diskussion über chemische und physikalische Eigenschaften etc., und wir waren am Ende dann ganz gut auf Linie (die Dame Chemielaborantin und ich), so dass ich die Kurve zur eigentlichen Thematik Zolltarifnummer bekommen konnte.
Die anderen Herrschaften haben sich solange nicht eingemischt, das war sehr angenehm. Ich dachte damit mal ein umfassendes und verständliches Statement gegeben zu haben, und in Ermangelung von Rückfragen auch verstanden worden war. So war ich zuversichtlich bei dem Urteil.
Das Gericht hat dann sehr lange 25 Minuten beraten und ist letztlich mit dem Urteil wieder raus gekommen. Es war das glatte Gegenteil dessen, was ich als Konsens empfunden hatte während der Verhandlung. Der Richter hat sich sogleich mündlich an einer Urteilsbegründung versucht. Als ich als Zeuge dabei heftig den Kopf schütteln musste, hat er mir während seiner Urteilsbegründung nochmal das Wort erteilt. Ich hatte sowas noch nie erlebt und sagte sowas wie: "Mir scheint Sie haben nicht verstanden, was wir soeben ausführlich besprochen haben..." Woraufhin die Laienrichterin mit dem Kopf nickte. Das Urteil war natürlich gesprochen. Der Richter wies aber (durchaus konstruktiv) darauf hin, dass die Beklagte eine Nichtzulassungsbeschwerde einlegen könne, und das Thema ja durchaus Potenzial hätte nochmal grundsätzlich durchleuchtet zu werden...
Leute, es ist echt schwierig. Mit all diesen Erfahrungen wird man sehr bescheiden, was den eigenen Anspruch an den Besitz der Wahrheit und Beurteilungen wie richtig und falsch betrifft. Mir geht es so: Je weiter ich von einem Thema weg bin, umso einfacher erscheint es mir, darüber zu urteilen. Ja, hört sich irgendwie paradox an. Deswegen reizt es mich, genau dort tiefer zu schürfen, andere Meinungen und Erfahrungen zu hören. Ein gemeinsames Ringen um Erkenntnisgewinn, keine Rechthaberei. Die meiste Uneinigkeit entsteht dadurch, dass die Prämissen nicht klar definiert sind, also jeder von anderen Annahmen ausgeht. Dass man dann auch zu verschiedenen Schlussfolgerungen kommt ist eigentlich naheliegend und kein Grund für emotionale Blockaden.
Man sollte einfach zurück zu den Prämissen, nachjustieren und wieder schlussfolgern. Das ist ein iterativer Prozess der durchaus parallel laufen kann bei verschiedenen Gruppen. Leider passiert das aber oft nicht (keine Zeit, keine Lust... andere emotionale Gründe, Gesichtsverlust etc.) sondern man versucht Schlussfolgerungen gegeneinander abzuwägen. Der Erfolg ist mäßig und für alle im Grunde unbefriedigend. Keine tieferen Einsichten nur ein Recht haben, verlieren, Besserwisserei.
Versteht mich nicht falsch: Wir brauchen die Gerichte ganz dringend, wir haben nichts Besseres. Aber nehmt Euch in Acht auf welchem Stuhl ihr dort sitzt. Die Aufgabe der Rechtsanwälte ist kurz gesagt zu polarisieren. Der Blick auf Wahrheit und Gerechtigkeit hängt letztlich sehr von der Perspektive ab. Von "oben herab" machen sich die Herrschaften es sich gerne auch mal leicht.

Grüße
Heinz

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